Titel
Voltaire. Die Abenteuer der Freiheit


Autor(en)
Reinhardt, Volker
Erschienen
München 2022: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
607 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Böning, Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

Voltaire, eine Zentralpersönlichkeit der europäischen Aufklärung, hat hier eine Biographie erhalten, die den Menschen wie den Schriftsteller und Philosophen in seinen unglaublich zahlreichen Facetten nahebringt und zugleich zeigen kann, worauf seine große Wirkung beruhte. Unglaublich seine Produktivität als Autor. Die 1968 begonnene Edition seiner „Gesammelten Werke“ sieht 220 Bände vor. Die Verbreitung seiner Schriften erfolgte mit allen Listen, die der Buchhandel des 18. Jahrhunderts kannte, sie erschienen anonym, mit fiktiven Verlagsorten, wurden außerhalb Frankreichs gedruckt und heimlich nach Paris gebracht, wo ihnen alle Schicksale drohten, die von einer strikten Überwachung der Druckproduktion und einer oft willkürlich-unberechenbaren, von Staat und Kirche organisierten Zensur in Frankreich für Bücher und ihre Autoren vorgesehen waren, sei es das bloße Verbot, die Konfiszierung, der Entzug von Druckprivilegien, die Verbrennung durch den Henker oder gar die Inhaftierung ihres Urhebers auf unbegrenzte Zeit in der Bastille oder dessen Verbannung in die Provinz. Eines der Dramen Voltaires verfiel in 2.600 bereits gedruckten Exemplaren einer so gründlichen Vernichtung durch die Polizei, dass bis heute kein Exemplar wieder aufgetaucht ist (S. 164). Voltaires Erfahrungen ließen ihn zu einem der wirkungsmächtigsten Verfechter uneingeschränkter Glaubens-, Meinungs- und Pressefreiheit werden, denn, so war er sich sicher, im Gegensatz zum mit den Religionen verbundenen Fanatismus hätten freies Denken und mutige Zeitkritik niemals öffentliches Unheil angerichtet. Aus solcher Überzeugung speiste sich sein publizistischer Kampf, der sich etwa in der Affäre Calas zu regelrechten Pressekampagnen auswuchs, gegen eine willkürliche und käufliche Justiz in Frankreich, die er immer wieder für staatlich sanktionierten Mord verantwortlich sah. Dabei begriff er die Öffentlichkeit als mächtige Richterin, die er bewusst ansprach, virtuos nutzte und um Beistand anrief (S. 421, ab S. 440 und ab 475).

Wenn es um die Unterschiede zwischen deutscher und französischer Aufklärung geht, so markiert diese kaum jemand markanter als der am 21. November 1694 in Paris geborene, am 30. Mai 1778 dort auch verstorbene François-Marie Arouet, der sich 1718 in einem Akt der Selbstermächtigung zu Voltaire umschuf und von diesem Zeitpunkt an als Philosoph und Schriftsteller zum schärfsten Kritiker von Kirche und Staat wurde. Auch wenn dies ein wenig schematisch erscheinen mag, sehen wir in Deutschland eine breite, auf Gemeinnützigkeit gerichtete Bürgerbewegung, die sich seit den 1720er-Jahren entfaltete und sich seit der Mitte des Jahrhunderts als praktische, auf den Alltag bezogene breite Reformbewegung begriff. Ihren Höhepunkt erreichte sie in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts mit den von den Zeitgenossen als „Volksaufklärung“ bezeichneten Aufklärungsbemühungen, die auf den gemeinen Mann, besonders aber auf die bäuerliche Bevölkerung gerichtet waren. Nach erstem Enthusiasmus stießen sie in Folge der Französischen Revolution seitens der Regierungen und konservativer Publizisten zunehmend auf Misstrauen und Widerstand, wirkten aber im 19. Jahrhundert gleichwohl massiv weiter. Zu den Hauptträgern der deutschen Aufklärung gehörten aus einem christlicher Nächstenliebe verpflichteten Engagement die Pfarrer, wie überhaupt religiöse Überzeugungen für deutsche Aufklärer keinen Gegensatz zur Aufklärung bildeten. In Frankreich hingegen sehen wir eine durch Voltaire verkörperte, von einem kleinen Kanon von Intellektuellen getragene Geistesbewegung, die sich auf Schlössern und in den Salons entfaltete, abfällig über den „Pöbel“ sprach, zwar von der universellen Gleichheit sämtlicher vernunftbegabter Menschen überzeugt war, gleichzeitig aber auch von einer Ungleichheit des Verstandes, die soziale Ungleichheit rechtfertigte und das einfache „Volk“ vom Aufklärungsprozess ausschloss. Voltaire war von der dümmlichen Gutgläubigkeit der meisten Menschen und einem dumpfen Herdentrieb überzeugt, seine Religionskritik hatte bei der großen Mehrheit der Bevölkerung eine Grenze (S. 490). Bildete die Forderung nach einer verbesserten Schulbildung der Landbevölkerung einen Kern der praktischen Bürgerbewegung deutscher Aufklärer, so gab es in Frankreich kein Pendant zum Begriff der „Volksaufklärung“, keine „Lumières populaires“, eine kostenlose öffentliche Schulpflicht forderte unter den prominenten französischen Aufklärern allein Mirabeau. 1

Hervorstechend an Voltaire ist eine so scharfe Kirchen- und Religionskritik, wie sie sich in der deutschen Aufklärung nur ausnahmsweise findet. Durch eigennützige Interventionen der katholischen Kirche in der Politik sah er nicht nur die herrscherliche Autorität gefährdet, sondern auch die vernünftige Ordnung von Gesellschaft und Politik untergraben. Hetzerischen Fanatismus, zu dem die Kirche den „Pöbel“ anstachele, begriff er historisch wie aktuell als eine der Hauptgefahren für die gesellschaftliche Entwicklung, ihn identifizierte er in den Anfängen aller Religionen, er war ein Hauptgrund für die auf der Leichtgläubigkeit der meisten Menschen beruhenden Macht der Priester. Interessanterweise kam hier für den Philosophen das „Volk“ ins Spiel, das er durch ein Christentum mit seinen als absurd empfundenen Legenden und Dogmen zum die soziale und politische Ordnung gefährdenden Atheismus verführt sah; Religion begriff Voltaire als reines Herrschaftsmittel zur Stabilisierung einer ungerechten Weltordnung, den Gottesglauben aber als Notwendigkeit. „Wenn Gott also nicht existierte, so müsste man ihn erfinden“, nicht für ihn selbst und seinesgleichen, sondern für das „Volk“, so eine seiner zentralen Überzeugungen (S. 451f., 521f.).

Voltaire galt als Religion alles, was über die vernünftige Annahme eines gütigen Schöpfergottes hinausging. Selbst, ob er an diesen wirklich glaubte, bleibt bei Reinhardt unentschieden. Charakteristisch für den Spötter ist der Kampf gegen einen Aberglauben, der für ihn alles das war, was über den bloßen Glauben an einen Gott hinausging, der den Menschen zu Frieden, Freundschaft und Fortschritt geschaffen habe. Nicht nur die Vorstellung von einem dreieinigen Gott, sondern alles vom Menschen dem Gottesglauben Hinzugefügte waren für ihn Hirngespinste oder von Priestern ausgedachtes Brimborium (S. 58, 83f., 140, 210, 333, 336).

Auch und besonders durch Voltaire gerieten Adelswillkür und Adelsarroganz ins Fadenkreuz der aufgeklärten Publizistik in ganz Europa, hier wirkte er als Essayist und erzählender Historiker, als Zeitkritiker und Dramatiker (S. 120). Aktuell ist sein tiefer Hass auf den Krieg, den er als legalisierten Massenmord in Uniform und schlimmsten Zivilisationsbruch bezeichnete. Bei aller Faszination, die er gegenüber Friedrich II. auch als Feldherr empfand, bezog sich dieser Hass auch auf das Schlachtenschlagen seines königlichen Freundes in Potsdam, an dem er sich eine Fundamentalkritik durchaus nicht verkniff, die ihm bei borussischen Historikern eine schlechte Presse bescherte. Ja, er verachtete Friedrich gar als Landräuber und zum fröhlichen Sterben für das Vaterland aufrufenden Herrscher. Alles Philosophieren über die beste aller Welten, so fasst Reinhardt Voltaires Überzeugung zusammen, erübrigt sich, wo Tyrannen das Sagen haben (S. 413f., 546).

Voltaire war nicht erst seit seinem unglücklichen Besuch in Preußen bewusst, dass ein freier Diskurs an einer Tafelrunde unmöglich war, in der eines der Mitglieder die uneingeschränkte Macht über Leben und Tod der anderen besaß. Da blieb, so sieht es Voltaires Biograph, nur noch die Rolle des intellektuellen Hofnarren, dem – mit 5.000 Talern Jahresgehalt gut bezahlt – die dauernde Angst im Rücken saß, rote Linien zu überschreiten. Das Herrscherlob übte Voltaire übrigens nicht erst in seiner Zeit am preußischen Hof, denn schon als Zwanzigjähriger – Kronprinz Friedrich war gerade 3 Jahre alt – vermochte er Verse zu dichten, die später der preußische König gerne von seinem Hofphilosophen entgegennahm: „Dieser König, größer als sein Glück,/ Verachtete wie Ihr jeden lästigen Pomp;/ Vor seinem Wagen sah man nie/ Die prunkvolle Wehr einer mächtigen Garde;/ Inmitten der Untertanen, die seiner Gewalt unterworfen waren,/ Ging er ohne Schutz, da ohne Furcht./ Durch die Liebe seines Volks hielt er sich für bestens geschützt.“ (S. 55) Im Übrigen zeigt das ganze Werk Voltaires seit der „Henriade“, wie sehr das Lob des Helden- und Philosophenkönigs, das dem preußischen König so gut gefiel, sich aus Versatzstücken literarischer Konventionen zusammensetzte. Die allerletzten Illusionen von einem sinnerfüllten Leben an der Seite der Mächtigen verlor der Franzose während der zweieinhalb Jahre in Potsdam (S. 274f., 309, 311, 314, 316) Es ist bemerkenswert an Reinhardts Werk, wie selbstverständlich – wegbahnend war hier Timothy W. C. Blannings Friedrichbiographie – inzwischen von einer traditionell nur verschämt angedeuteten, Voltaire anekelnden homophilen Atmosphäre an Friedrichs Hof ausgegangen wird. Auch in Preußen, so erfuhr Voltaire am eigenen Leibe, gab es keine von ihm erträumte umfassende Freiheit, zu denken, zu glauben und zu publizieren. Auch hier verbrannte der Henker die Werke von Schriftstellern, denn es zählten nicht die besseren Argumente, sondern königliche Macht und Protektion. Der mit Sarkasmus und eleganten Argumentationen verbundene Geistesreichtum des Philosophen konnte sich da kaum entfalten (S. 326, 382), stattdessen erlebte er einen König, der die europäische Öffentlichkeit einst mit großen Plänen beeindruckt hatte, sich seit 1740 aber hütete, Privilegien anzutasten und Diskriminierungen abzubauen (S. 332).

Reinhardt sieht durch seinen Helden die finale Krise des Ancien Régime und das Nahen der Revolution beschrieben (S. 496). Die Stärke und Überzeugungskraft des von ihm entworfenen Lebensbildes liegt in einem Punkt begründet, der in anderen Rezensionen gerade kritisiert wurde, nämlich in einer sehr detaillierten, manchmal vielleicht ein wenig ausführlich-ermüdenden Vorstellung nahezu aller wichtigen Werke Voltaires. Durch sie entsteht über sechshundert Druckseiten ein recht genaues und gut zu lesendes Porträt der zentralen Überzeugungen und Charaktereigenschaften dieses so bedeutenden Menschen, auch aber seiner zeitbedingten Vorurteile, von denen er selbstverständlich ebenfalls nicht frei war (S. 539, 563).

Anmerkung:
1 Siehe zu diesen Unterschieden Claire Gantet, Gab es eine französische Volksaufklärung? (1750–1840), sowie Holger Böning, Die Träger der deutschen Aufklärung. Traditionelle Sicht und Realität – wie kommen wir zu einer Prosopographie der gemeinnützig-praktischen Aufklärung und der Volksaufklärung?, beide in: Holger Böning / Iwan-Michelangelo D’Aprile / Hanno Schmitt / Reinhart Siegert (Hrsg.), Wer waren die Aufklärer? Zum sozio-biographischen Hintergrund von „hoher“ Aufklärung und Volksaufklärung, (Presse und Geschichte. Neue Beiträge 151 / Philanthropismus und populäre Aufklärung 23), Bremen 2022, S. 351–378 und 13–44.

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